BEWERTUNGEN – SIE LIEGEN IN DEINER NATUR!
Ein Gastbeitrag von Judith Binias von seewithyourbody.de
Ich sitze im Yoga-Ausbildungs-Seminar über Meditation und höre immer wieder: „Bewerte nicht. Nimm einfach wahr. Ganz gleich, was kommt, nimm einfach wahr. Kultiviere eine Haltung ohne Bewertung.“
Heute, 11 Jahre später, habe ich eine Achterbahn der Bewertung über das Bewerten hinter mir. Erst letztes Jahr saß ich in einer Fortbildung zur gewaltfreien Kommunikation und der Trainer sagt: „Wir brauchen Bewertung!“.
Was ist denn nun richtig?
Ob und wenn ja, warum wir Bewertungen brauchen und wann genau sie uns helfen und wann schaden, kann uns die Natur vormachen. Genau darum geht es in diesem Artikel.
ACHTSAMKEIT – WAS GENAU IST DAS EIGENTLICH?
Wir hören es vor allem im Kontext der Achtsamkeit: „Du sollst nicht bewerten!“. Aber was genau ist damit eigentlich gemeint und warum ist das so wichtig?
Achtsamkeit bedeutet, dass wir uns öffnen für das, was wir in dem Augenblick wahrnehmen. Wir beobachten, spüren, fühlen und beschreiben, was ist. Dabei geht es darum, raus aus unserer Gedankenwelt zu kommen und rein in den jetzigen Moment.
Vielleicht ist es dir schon einmal aufgefallen, dass wir Menschen häufig in der Vergangenheit hängen oder schon an die Zukunft denken, die Gegenwart aber sehr wenig wahrnehmen. Viele mentale Erkrankungen können dadurch verschlimmert werden, weil wir den Bezug zu der jetzigen Situation verlieren. Die Achtsamkeit ist eine Praxis, die uns dazu verhilft, weniger Stress zu empfinden, weil wir uns nicht um das Morgen sorgen und nicht über das Gestern grübeln. Wir können abschalten, erfahren Entspannung und mehr Klarheit.
DIE NATUR LIEBT DIE BEWERTUNG
Wenn wir einfach wahrnehmen, bewerten wir nicht. Wir spüren den Regen, der auf unser Gesicht prasselt, beobachten unsere Gedanken dazu, nehmen wahr, wie sich unser Körper dabei fühlt. Und genau hier… brauchen wir auch die Bewertung. Lass uns dieses Paradox einmal genauer anschauen.
Wir sollen nicht bewerten, um achtsam zu sein. Besser könnte man sagen: Wir sollten nicht verurteilen und vergleichen, um achtsam zu sein.
Wenn wir vergleichen, geraten wir wieder ins Grübeln. Wir denken daran, dass unsere Nachbarin aber in den Süden geflogen ist, während wir im nass-kalten Winter in Deutschland sind. Sowas gemeines! Aber wir können es uns halt grad nicht leisten, weil wir es nicht geschafft haben, genug zu sparen – „ach verdammt, warum kriege ich das nicht hin, aber alle anderen!?…“ Erkennst du das Bewerten? Es hat dich in diesem Moment ins Vergleichen gebracht und dazu, dich selbst klein zu reden. Leider ist das ein häufiges Phänomen: unser innerer Self Talk ist oft weniger aufbauend, als es wünschenswert wäre!
Und doch: Das Bewerten liegt in deiner Natur!
Ohne Bewertung wüsstest du nicht, was dir gut tut und was nicht.
Die Natur gibt uns unzählige Beispiele, wann sie selbst bewertet und entsprechend Entscheidungen trifft.
Ein Keimling kommt erst dann aus der Erde, wenn es Zeit ist. Der Samen bewertet die Feuchtigkeit und Temperatur, das Licht und die Beschaffenheit der Erde und entscheidet, wann es Zeit ist, aus dem Boden zu brechen. Wenn er nicht bewerten würde, würde er völlig willkürlich wachsen und vielleicht eingehen.
Ein Reh hört ein Geräusch. In Windeseile werden Informationen gesammelt über Nase, Ohren und räumliche Wahrnehmung und das Nervensystem bewertet: Gefährlich oder sicher? Je nachdem, wie die Bewertung ausfällt, funkt das Nervensystem „Flucht“ oder „Entspannung“. Das Reh braucht diese Bewertung, um zu überleben.
Deine Zunge nimmt ein neues Wildkraut wahr. Der Geschmack ist bitter… alles zieht sich zusammen, dein Gesicht wird kraus, dein Speichel fließt. Blitzschnell bewertest du, eher unbewusst, dass dieses Kraut wieder ausgespuckt wird! Du hättest dir eine Vergiftung zuziehen können, aber dein natürlicher Instinkt hat für dich bewertet.
Wenn deine Schuhe voller Wasser sind und du beginnst zu frösteln, begibst du dich auf den Heimweg, weil du bewertest und damit eine Erkältung abgewendet hast.
Bewertung führt uns entweder hin zu etwas oder weg davon. Die Natur ist uns eine wundervolle Lehrerin darin. Und Achtsamkeit bekommt eine neue Perspektive. Je achtsamer wir sind, umso besser können wir unseren Körper spüren und damit auch, ob wir uns mit einer Situation wohl fühlen oder nicht.
Zugleich bietet die Natur die besten Voraussetzungen dafür, unsere Bedürfnisse besser bewerten zu können. In der Natur sinkt unser Stresslevel: Der Blutdruck wird geringer, die Stresshormone reduzieren sich, unsere Augen entspannen sich im Grün.
Je weniger Stress wir empfinden (denn bereits Stress ist eine Bewertung unseres Nervensystems), umso besser können wir wahrnehmen. Wir sind dann nicht voreingenommen, sondern haben die Möglichkeit, zu spüren.
WANN WIR KEINE BEWERTUNG BRAUCHEN
Stellen wir uns nochmal das Reh vor. Glaubst du, dass das Reh da so rumsteht und sich denkt: „Bäh, also was die Rehnate da wieder in ihrem Fell trägt… sind dit Zweige? Also ICH würde das ja nie tragen. Also sowas…!“ oder „Also dieses Grün ist mir einfach zu hell. Ich mag das nicht. Das ist einfach hässlich. Bäh.“
Die Natur gibt uns Raum, den Unterschied zu spüren, wann wir die Bewertung brauchen – nämlich wenn es um unser Wohlergehen geht – oder nicht brauchen.
EINE ACHTSAMKEITSÜBUNG FÜR DICH
Nimm dir etwa 10 Minuten Zeit in einem Garten, Park oder Wald, so dass du auf die Natur schauen kannst.
- Beobachte deine Umgebung. Wie viele Grüntöne kannst du wahrnehmen? Fühlst du dich von einem Grünton angezogen? Wie viele Tiere kannst du sehen?
- Nimm deine Gedanken wahr. Wann beginnt dein Geist zu plappern? Wann möchte er das Grün oder die Anzahl der Tiere bewerten?
- Spüre deinen Körper. Fühlst du dich wohl? Wenn ja: Wie fühlt sich das an? Wenn nein: Woran erkennst du das? Was kannst du tun, um deine Situation zu verändern?
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